Von der Theorie zur Praxis
Stellt man Insekten fotografisch nach, flüchten sie meist von der Kamera weg. Man erhält also in der Mehrzahl der Fälle Bilder in Rückansicht. Das ist aber nicht das, was sich der Fotograf vorstellt, sein Ziel sind frontale Fotos »Auge in Auge«. Die sind jedoch schwierig und eher die Ausnahme.
Hier empfiehlt sich ein Hilfsmittel, das schon Stephen Dalton vor fast 50 Jahren für seine spektakulären Fotos fliegender Insekten einsetzte ‒ den Flugtunnel. Er machte sich zunutze, daß fast alle Insekten instinktiv aus der Dunkelheit ins helle Licht fliegen. Setzt man das Fotoobjekt in einen schwarzen Kasten, der auf einer Seite offen ist, braucht man nur noch zu warten, bis es durch die Öffnung ins Freie fliegt und die Lichtschranke unterbricht. Soweit die Theorie.
Dabei gilt es einige Parameter zu berücksichtigen. Der wichtigste ist die Größe der Insekten, die damit fotografiert werden sollen. Davon hängt die Ausflugsöffnung und die Größe des Kastens insgesamt ab. Der vorliegende Flugtunnel ist für mittelgroße Flieger wie Heuschrecken oder Hummeln gedacht, deshalb wurde ein Ausflugsfenster von ca. 7x10 cm² bei einer Kastenbreite von 24cm gewählt.
Als Kamera dient die Canon EOS M6 II mit einem 32,5MP APS-C-Sensor. Um die Ausflugsöffnung auf einen APS-C-Sensor abzubilden, ist ein Abbildungsmaßstab von ca. 1:5 erforderlich. Mit einem etwas »längerbrennweitigen« Objektiv wie dem Apo-Componon HM 4,5/90 läßt sich dieser ABM gut erreichen, auch mit dem obligatorischen PQS-Verschluß. Von Vorteil ist der etwas erhöhte Abstand, so daß die Flieger nicht gleich gegen das Objektiv prallen.
Damit die ausfliegenden Insekten sicher erkannt werden, wird statt einer Einzellichtschranke ein professionelles »Lichtgitter« Sick WLG12-P537 mit einer Ansprechzeit von 0,6ms eingesetzt. Es ist quasi eine achtfach-Reflexionslichtschranke, die eine Bildhöhe von 8,8 cm vollständig abdeckt. In Abhängigkeit vom Abstand zum Reflektor läßt sich die Empfindlichkeit an einem Potentiometer so einstellen, daß noch Objekte bis herunter auf Millimetergröße detektiert werden können. Ursprünglich dienten zur Beleuchtung zwei Metz 40MZ-3i und zwei Nikon SB800, alle in ihrer niedrigsten Teilleistungsstufe. Damit wurde eine Blitzzeit von 1/33000s erreicht. Inzwischen gibt es aber Besseres wie den neuen Blitz Jinbei HS1 Max alias Rollei HS freeze 1s, der mit der extrem kurzen Blitzdauer von ca. 1/62000s fast doppelt so schnell ist wie die ursprüngliche Lösung. Dank seiner etwas höheren Leitzahl ersetzen zwei Blitzgeräte die vorherigen vier, d.h., das Licht reicht für Bl. 11 bei ISO 100. Mit einem ABM 0,25 ergibt sich nach crosslens eine Tiefenschärfe von ca 8-10mm. Zur Fokussierung des Objektivs auf die Lichtschranke wird eine kleine Scheibe verwendet, die im Mittelpunkt des Bildfensters sitzt und sich per Gewinde so weit nach vorn drehen läßt, bis die Lichtschranke anspricht. Auf diese Scheibe wird dann scharfgestellt ‒ wegen der relativ großen Tiefenschärfe nicht sehr kritisch.
An der Unterseite des Kastens kann ein kleines Slave-Blitzgerät Metz 28CS-2 befestigt werden, das durch ein Loch im Boden optisch von den Hauptblitzen gezündet wird. Durch eine Öffnung blitzt es nach oben auf einen schräg stehenden Spiegel und simuliert damit Gegenlicht.
Das war nicht nur umständlich, es erschwerte auch den Aufbau, die Ausrichtung und das Fokussieren der Kamera. Hier bot sich ein Aluträger an, auf dem alle Einheiten montiert werden. Weil damit der Abstand vorgegeben ist, muß die Einstellung mit der »Fokusscheibe« nur einmal durchgeführt werden. Für die beiden SB800 wurden die Blitzschienen verwendet, die beim Umbau der Metz-Powergriffe G15 übriggeblieben waren. Mit ihrer Klemmschraube passen sie perfekt an das Aluprofil.
Der gesamte Aufbau bringt ca. 8kg auf die Waage. Deshalb wird ein stabiles Berlebach-Holzstativ mit dem großen Nivellierkopf N90 verwendet, der für 20kg ausgelegt ist. Für eine zusätzliche Stabilisierung sorgt ein Teleskoparm zwischen Stativ und Aluträger.
Das Hintergrundbild ‒ nicht ganz einfach
Einer der großen Vorteile eines Flugtunnels ist die Möglichkeit, einen künstlichen Hintergrund einzusetzen. Er wird an der Rückseite des Tunnels befestigt und steht leicht schräg, um eine direkte Spiegelung der Blitze im Bild zu vermeiden. Zum Wechseln des Hintergrunds läßt er sich umklappen. Leider sorgte dieser Hintergrund für die meisten Probleme. In der ersten Version wurde er nur von vorn durch das Ausflugsloch angeleuchtet, was zu dunklen Rändern links und rechts führte. Deshalb wurde die Rückseite durch eine transparente Plexiglasplatte ersetzt, die von hinten mit einem Nikon SB-26 mit eingebautem Lichtsensor angeleuchtet wird. Je nach Teillichtleistung kann der Hintergrund mehr oder weniger aufgehellt werden. Der Nachteil war ‒ abgesehen vom Extraaufwand eines weiteren Blitzgerätes samt Stativ ‒ daß manche Aufdrucke, die der Hersteller auf der Rückseite angebracht hatte, durchschienen und im fertigen Bild zu sehen waren. Alternativ sollte der Hintergrund deshalb von innen beleuchtet werden, wofür die Rückseite des Ausflugsloches mit LED-Streifen beklebt und im richtigen Moment für kurze Zeit eingeschaltet wurden. Obwohl die 330 Power-LEDs lt. Hersteller einen Lichtstrom von ca. 4200 lm erzeugten, war bei einer Belichtungszeit von 1/1000s und Bl. 11 fast nichts vom Hintergrund zu sehen. Hier mußten schwerere Geschütze aufgefahren werden, Stichwort LED-Blitz. Zwei Kondensatoren von 150µF wurden auf 200V aufgeladen und im Moment der Auslösung über die LEDs entladen. Zum Schutz des Schalttransistors und der LEDs begrenzte ein Serienwiderstand von 3,3 Ohm den Strom auf ca. 25A. Damit stieg der Lichtstrom kurzzeitig auf das Dreißigfache, bevor er gegen Null abfiel. Das reichte jedoch. Leider haben das nicht alle LEDs ausgehalten, was gegen diese Methode sprach. Vom Aufwand ganz abgesehen. Die endgültige Lösung war dann ganz einfach: Nicht die hintere, sondern die vordere Platte mit dem Ausflugsloch wurde durch eine mattierte, aber transparente Plexiglasscheibe ersetzt. Auf diese Weise wurde das Licht der beiden Blitzgeräte nur wenig behindert. Zusätzlich sorgten reflektierende Hochglanzfolien an den Innenseiten des Kastens für eine gute Lichtverteilung, womit der Hintergrund nahezu homogen und hell genug ausgeleuchtet wurde.
Die Stromversorgung für den PQS-Verschluß und das Lichtgitter übernimmt ein 12V-NiMH- bzw. 11,1V-LiPo-Akku. Weil das Lichtgitter eine Spannung von 18V benötigt, muß ein StepUp-Transverter zwischengeschaltet werden. Der Stromverbrauch liegt damit bei ca. 100mA.
Die verbesserte Ausführung
Die Theorie ist aber die eine Sache, die Praxis die andere. Im Prinzip fliegen die Insekten natürlich aus dem Dunklen ins Helle, aber nur wenn sie wollen. Manche schießen sofort heraus, andere nehmen sich erst einmal Zeit für die Körperpflege und wieder anderen gefällt es so gut in der Höhle, daß sie freiwillig gar nicht mehr heraus wollen. Dazu kommt die Neigung, nicht in der großen freien Mitte herauszufliegen, wie man es eigentlich erwarten würde, sondern ganz am Rand zwischen einer Bühnendekoration hindurch. Andere biegen nach der »Abbruchkante« sofort scharf nach oben oder unten ab und durchbrechen die Lichtschranke gar nicht erst. Viele gehen auch lieber zu Fuß und klettern über die Brüstung, anstatt zu fliegen. Man liegt sicher nicht falsch zu sagen, daß nur jeder zehnte Versuch rein technisch funktioniert. Ob das Foto am Ende verwendbar ist, sei dahingestellt.
Ein Nachteil ist, daß die Fotos Gefahr laufen, künstlich oder gestellt zu wirken. Um diesen Eindruck zu vermeiden, sollte der Hintergrund und die Dekoration öfters gewechselt werden. Insgesamt überwiegen aber die Vorteile. Fliegende Insekten scharf und vor einem ansprechenden Hintergrund abzulichten, gehört ohnehin schon zu den schwierigsten Unterfangen der Naturfotografie. Dafür ist der Flugtunnel ein ernstzunehmendes Hilfsmittel. Jedenfalls, solange angenehme und flugfreundliche Umweltbedingungen herrschen. Angesichts des aktuellen Klimawandels hin zu einer neuen Eiszeit wie im August ’21 oder im Frühjahr ’23 muß als nächster Schritt über den Einbau einer Heizung nachgedacht werden.
APS-C oder Vollformat?
Der beschriebene Aufbau ist für eine Kamera mit APS-C-Sensor gedacht, im speziellen Fall für die Canon EOS M6 Mark II. Wie sähe es aber mit einer Vollformat-Kamera aus?
Bei einem bloßen Austausch des Sensors vergrößert sich der Bildwinkel und das Bildfeld wird um den Crop-Faktor größer, im Falle der M6 II also 1,6mal breiter und höher. Statt des Ausflugsloches wäre noch viel Kasten drumherum zu sehen, keine echte Verbesserung.
Um das zu verhindern gibt es zwei Möglichkeiten: Einmal eine längere Brennweite, also 1,6x90mm≈150mm. Damit würde zwar der Bildwinkel wieder passen, aber das ohnehin schon lange Teil wäre noch viel länger. Praktischer erscheint deshalb die zweite Methode, die Erhöhung des Abbildungsmaßstabs um den Faktor 1,6. Nebenbei führt das auch zu einer Verkürzung der Schiene. Leider ist nun das Hintergrundbild zu klein und die Kanten erscheinen im Foto.
Genauer gesagt, bei der vorliegenden Breite des Kastens kann der ABM nur von 0,24 auf 0,33 vergrößert werden. Damit steigt die nutzbare Bildbreite in der Schärfeebene von 95mm auf 110mm, während sich die Gesamtlänge um 10cm reduziert. Insgesamt kein »durchschlagendes« Argument für den Einsatz einer VF-Kamera.
Um den vollen Nutzen aus einem VF-Sensor ziehen zu können, müßte der ABM um das 1,6fache und die Breite des Kastens von 24cm auf 38cm steigen. Für die gleiche Detailauflösung wären dann 83MP notwendig. Außerdem muß beachtet werden, daß jede Vergrößerung des ABM die Anfälligkeit für Bewegungsunschärfe erhöht und zu weniger Tiefenschärfe und Licht führt.
Wenn nicht ausdrücklich sehr große Flieger fotografiert werden sollen, spricht nichts gegen APS-C als optimalen Kompromiß zwischen Bildqualität und Abmessungen.